Sylvia T. Verwicks – Suche zwischen Suggestion und Anziehung
von Andrea B. Del Guercio
Kaleidoskop Freiburg, 2017
Meine Begegnung im Atelier, also direkt mit den Materialien aus der jüngsten Schaffensperiode Sylvia T. Verwicks, hatte, noch vor der sprachlichen Vertiefung, den Charakter einer Selektion des Materials, das von außen kommt und somit eine Wahrnehmung und eine Reaktion vorgibt. Die Methode, die dem künstlerischen Material Form gibt und ihm den Stempel der Ästhetik aufdrückt, besteht in Suggestion und Anziehung; die Faszination errät die Präsenz einer geheimnisvollen Realität, wo die Analyse sich vorantastet, um wichtige ästhetische Werte abzuleiten. Dieser künstlerische Zugang, den die zeitgenössische
Kultur der Alchemie zu verdanken hat, während die moderne Wissenschaft ein work in progress ist, erklärt die durch und durch kaleidoskopische Wirkung der Werke Sylvia T. Verwicks: sie legt eine Wahrnehmung nahe, die den selektiven Charakter bei der Installation der Werke auf dem Ausstellungs-Parcours hervorhebt. Die Dimension, die von der Wirklichkeit systematisch vorgeschlagen wird, die sie unserem teilnehmenden Blick immer wieder auferlegt und so den Schatz unserer Erfahrungen begründet, offenbart sich im Werk der Künstlerin sowohl in Bezug auf die Dimension des Menschlichen als auch auf jene des natürlichen Habitats; die Zeichnungen, die Objekte und Filme, die materielle Dimension der Skulpturen legen einen visuellen Zugang nahe, ergründen die Funktionen der menschlichen Existenz sowohl im Intimen als auch in Bezug auf die Umwelt. Voneinander unabhängige künstlerische Wirklichkeiten, in deren Inneren sich Sylvia T. Verwick mit Aufmerksamkeit und Umsicht bewegt, mit einem großen Bewusstsein für die für die Bearbeitung notwendige Grammatik. Auf halbem Weg zwischen Alchemie und Wissenschaft spricht Sylvia T. Verwick mit einem Blick, der beobachtet, der mithilfe weniger Signale die Lesart des eigenen Werks vorgibt, der einen schweigend im geordneten Raum begleitet; man nimmt eine Vorgangsweise zur Kenntnis, die sich sowohl dem Handwerklichen als auch avancierten Techniken öffnet. Im Rahmen dieser Ausstellung präsentiert die Künstlerin voneinander unabhängige Zyklen, die eine Fülle von Informationen und Anregungen aufweisen: auf einem langen Blatt finden wir die grafische Erzählung einer ärztlichen Untersuchung auf Röntgenplatten; der Zyklus „Signaturen“ konfrontiert uns mit aus der Nähe betrachteten Lebensgeschichten, wobei der künstlerische Prozess die Unentzifferbarkeit der Wissenschaft überschreitet und uns erlaubt, an der ästhetischen Dimension der Anatomie teilzuhaben; eine schmerzhafte Erfahrung, die aus jenem Bereich der Kunst stammt, der, nicht zuletzt auch philosophisch und religiös motiviert, die Vergänglichkeit des Lebens thematisiert. Als Installation mit filmischem, foto-dokumentarischem Charakter präsentiert
sich „Die Abwesenheit der Erinnerung“, in deren Rahmen die anthropologische Konstante und die Geschichte der weiblichen Handarbeit thematisiert wird: die Frauen weben „die Fäden der Zeit“. Diese wiederkehrende, methodische, wie eine religiöse Litanei wiederholte Geste spricht von dem großen Schweigen, in dem der Gedanke sich verliert, in dem er Freiheit findet, in dem die Bilder aufeinander folgen und unser Denken ein Ende hat:
„Doch wie ich sitz und staune, tun im Geist / Sich Räume ohne Grenzen jenseits auf / Voll solchen Schweigens, wie’s der Mensch nicht fasst, … Des Unermesslichen ertrinkt mein Denken / Und Schiffbruch leid ich gern in solchem Meere.“ (G. Leopardi, Das Unendliche)