Andrea Hess – Die schöpferische Kraft geschützter Räume

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von Andrea B. Del Guercio

Kaleidoskop Freiburg, 2017

Auch wenn die Arbeiten von Andrea Hess sich dem Auge und den Sinnen unmittelbar erschließen mögen – vielleicht aufgrund der reduzierten Formensprache und der streng gewählten Ikonografie – wird tatsächlich hinter jedem Werk ein ausdrucksstarker, äußerst sensibler Prozess deutlich, der auch zahlreiche Werte und konzeptuell geschichtete Erfahrungen verdichtet; jedes plastische oder gemalte Einzelstück in der Folge und Weiterentwicklung dieses neuen Werkzyklus’ entspricht der Serie von Übergängen, an denen sich technische Fragestellungen mit der sorgfältigen Abklärung von Gedanken
und Gefühlen verbinden. Die Ergebnisse offenbaren die Größe eines seltenen und kostbaren künstlerischen Schaffens. Bereits bei der ersten im Atelier erfolgten Sichtung der zahlreichen „Skulptürchen“ aus Gips, die in „kleinen Erinnerungstheatern“ aufbewahrt werden und über die Wände verteilt auf ihre monochrome Fassung warten, spürte ich die Notwendigkeit, die
wesentlichen Inhalte der Arbeit zu definieren; ich konnte insbesondere die entscheidende Funktion des Flickens und des Nähens ausmachen, also einer seit jeher weiblichen Tätigkeit. Indem sie den Konturen der Zeichnung über das Nähen folgt, definiert Andrea Hess nach dem Vorbild kleiner Stoffpuppen den Raum, den der schnell fest werdende Gips in halbflüssigem
Zustand anschließend darin einnimmt und so die Struktur der Arbeit festlegt. Diese zwei einfachen und exakten Gegebenheiten bestimmen ein Kunstprojekt, das sich der Entbehrung und der Ausgrenzung widmet, und verleihen ihm Substanz; die Definition von Armseligkeit gewinnt sowohl durch das Flicken als auch durch die Beschaffenheit und Wertigkeit des eingesetzten
Materials als Konzept künstlerischen Schaffens an ästhetischer Bedeutung. Zierlichkeit und Strenge, Zärtlichkeit und Gliederung scheinen die Inhalte des künstlerischen Schaffens von Andrea Hess zu sein, das nicht beschreibt, sondern sich der wesentlichen Erfahrbarkeit auf diesem Gebiet und einer vorhandenen, doch zum Schweigen gebrachten Menschlichkeit verschreibt.
Sofern das bevorzugte Thema von Andrea Hess das der in Kargheit lebenden Menschen ist, setzt die Künstlerin ihm einen methodischen und wiederholbaren, den weiblichen Künsten zugeordneten Ansatz entgegen, der sich durch den Verweis auf die Ikonografie einer populären Frömmigkeit über Reliquien und Votivbildern bedient. Jedes ausdrucksstarke Fragment von Andrea Hess bildet eine zeitgenössische ausdrucksstarke Wirklichkeit, die mit dem Erbe der Kunstgeschichte eng verbunden ist; noch spezifischer scheint der Verweis auf das Kunsthandwerk, dessen oftmals anonymes Schaffen Werke hervorbringt,
die sich durch ästhetische Qualität auszeichnen.

• Die schöpferische Dimension von Andrea Hess wurde noch erweitert, als aus einem Schubladenschrank bei
dieser ersten Begegnung im Atelier eine umfassende Serie sorgfältig angelegter Landschaftsmalereien auftauchte; es handelt sich um ihre zweite künstlerische Ausdrucksform, die über die Rückgabe von Lebensraum auf die Vereinzelung von Heimatlosen reagiert. Auch hier muss man den konzeptuellen Ansatz hervorheben, da er das Landschaftsbild bestimmt und sich oft in der romantischen Erscheinung des Schwarzwaldes oberhalb Freiburgs manifestiert; es handelt sich hier nicht um
eine beschreibende oder naturalistische Annäherung, sondern um eine ästhetische Funktion mit moralischem Wert – die der Abspaltung und der Rückgabe des Planeten als identitätsstiftendes Territorium. Im Gegensatz zur Ärmlichkeit des Flickens
und des Materials Gips ist hier die qualitative Fülle einer Malerei bezeichnend, die interessante Bezüge zur Miniaturmalerei aufweist.

• Während die Anatomie der Plastiken wie bei Giottos „campana“ durch die monochrome Fassung definiert wird,
findet die Mehrfarbigkeit in den Landschaften eine weitläufige Definition; während der Werkzyklus der „geschützten Skulpturen“ die Auffassung einer menschlichen Anonymität verzeichnet, ist in der Malerei eine aufmerksame und feine Beobachtung aller in ihr eindringlich beschriebenen Formen des Daseins spürbar.